Macht behalten über die eigenen Reaktionen

Aus der Kategorie ein Expertenbeitrag Coaching, Beratung

Auf Kritik, Vorwürfe oder Schuldzuweisungen reagiert man in der Regel mit Schmerz, gefolgt von Ärger oder gar Wut. Bei solchen Gefühlen stehen vielen nur dieselben lebensentfremdenden Strategien zur Verfügung: Man antwortet mit Verteidigung oder Gegenangriff – und fühlt sich danach keineswegs befreiter, eher im Gegenteil. Auch auf Klagen, Jammern oder Weinen reagieren Menschen keineswegs grundsätzlich mit Mitgefühl, sondern häufiger mit Abwehr und innerlichen Urteilen. Statt dahinter eine Mischung aus Schmerz und Angst des anderen zu sehen, empfinden viele solche Gefühlsoffenbarungen als „hineingezogen werden“ und versuchen, sich zu schützen. Das Gefühl der Machtlosigkeit bewirkt häufig auch, dass Menschen versuchen, den auslösenden Reiz ihrer Kontrolle zu unterwerfen – z. B. durch Dominanz oder autoritäre Verhaltensweisen. Von: Godehard Pötter © 2011 (ein Kapitel aus meinem Buch, das ich gerade schreibe)

Wenn das nicht gelingt, kann ein übermächtiger Eindruck der eigenen Unzulänglichkeit entstehen - was wiederum dazu führen kann, dass die Betreffenden versuchen, den Reiz zu zerstören, z.B. durch Gewalt. All dem zugrunde liegt ein Gefühl der eigenen Machtlosigkeit, auf die immerhin durch andere ausgelösten eigenen Gefühle selbstbestimmt zu reagieren. Ohnmächtig, die plötzlich aufkommenden Gefühle in eine andere Richtung zu lenken, als vom anderen aktiviert, schreibt man somit dem anderen zu, was gerade in einem selbst abläuft. Doch gerade damit erst gibt man die Kontrolle ab über die eigenen Gefühle. „Wenn ich zulasse, dass Sie mich versehentlich unterdrücken, benutzen oder übervorteilen, muss ich mich bei Ihnen entschuldigen, um wieder in den Besitz meiner Macht zu gelangen. Ich möchte Sie darüber in Kenntnis setzen, dass ich den Ärger bedauere, der immer dann entsteht, wenn ich nicht für meine eigenen Bedürfnisse eintrete und zulasse, dass Sie Ihre Bedürfnisse auf meine Kosten befriedigen.“(Zitat aus: Kelly Bryson; „Sei nicht nett, sei echt“)

Vier Reaktionsmöglichkeiten auf negative Äußerungen

Wenn jemand negativen Äußerungen eines anderen begegnet, egal ob verbal oder non-verbal, bestehen vier Möglichkeiten, darauf zu reagieren:

  • "Sich selbst die Schuld geben" ... bedeutet, dass man die negative Äußerung gehört hat mit „nach innen gerichteten Schuldohren“ – also nach Schuld und Verursacher sucht, und zwar bei sich selbst.
  • "Dem anderen die Schuld geben" ... bedeutet, dass man die negative Äußerung gehört hat mit „nach außen gerichteten Schuldohren“ – also noch immer nach Schuld und Verursacher sucht, doch diesmal beim anderen.
  • "Die eigenen Gefühle und Bedürfnisse wahrnehmen" ... bedeutet, dass man die negative Äußerung gehört hat mit „nach innen gerichteten Bedürfnisohren“ – also die Frage nach Schuld und Verursacher zurücktreten läßt gegenüber dem Blick auf die eigenen Gefühle und der Suche nach den tatsächlichen Ursachen dafür.
  • "Die Gefühle und Bedürfnisse anderer wahrnehmen"... bedeutet, dass man die negative Äußerung gehört hat mit „nach außen gerichteten Bedürfnisohren“ – also ebenfalls die Frage nach Schuld und Verursacher zurücktreten läßt gegenüber einfühlsamen Vermutungen nach den unerfüllten Bedürfnissen des anderen.

1. Sich selbst die Schuld geben

Die erste Möglichkeit wäre, es persönlich nehmen und aus der Äußerung Kritik und Vorwürfe zu hören. Damit jedoch akzeptiert man innerlich das Urteil des Anderen „Selber schuld!“ und folgt bereitwillig dieser „Einladung in den Keller der eigenen Selbstverurteilungen“. Hier werden die gehörten Vorwürfe und Kritiken erst recht aufgeladen, denn niemand weiss um die eigenen Schwachstellen so gut, wie man selber. Sich solcherart selbst zu verurteilen fördert Scham und Schuldgefühle. Hierunter leidet das Selbstvertrauen und Depressionen können entstehen.

a) Die eigene Opferrolle ansehen

Es gibt unglaublich viele Menschen, die in der frühen Kindheit oder in ihrem späteren Leben Leid erfahren haben, zum Beispiel körperliche oder seelische Verletzungen in unterschiedlicher Ausprä¬gung. Solche Menschen sehen die ganze Welt oft aus einer Opferperspektive – in Form eines latent unterschwelligen Mangel¬empfin¬dens. Dieses prägt weite Teile ...

• der Wahrnehmung

  • Vergleiche mit anderen (Rang, Vermögen, Attraktivität, Anerkanntsein usw.) finden vermehrt und vornehmlich aus einer Defizitperspektive statt, die auf „dasselbe Konto“ gebucht werden, wie der Grundschmerz, und diesen damit stetig vergößern und chronifizieren.
  • Positive Momente (Hilfen, Zuwendungen, eigene Erfolge, Glück) können kaum gesehen werden – weil das Zulassen der „Freude“ darüber von den Betroffenen als innerlicher „Verrat“ empfunden würde an dem ja noch nicht angesehenen/gewürdigten unterschwelligen Grundschmerz.

• der Handlungsintentionen:

  • Viele Handlungen, Aktivitäten oder Gesprächsbeteiligungen von solcherart Betroffenen haben einen hinweisenden Charakter als Unterton – mit dem Ziel, auf sich und seinen Schmerz aufmerksam zu machen.
  • Viele Betroffene wählen Wege, die sie immer wieder in die Defizitperspektive führen, die sie kennen und worin sie sich sicher und vertraut fühlen, während hingegen neue Wege erst einmal unbekannt und angstmachend wären.

„Der Krieg wird niemals zu Ende sein, solange noch eine Wunde blutet, die er geschlagen hat.“ (Heinrich Böll). Anders ausgedrückt: Es kann kein Seelenfrieden entstehen, solange Seelenverletzungen nicht verbunden sind, der Grundschmerz also nicht gesehen – ernstgenommen – verstanden worden ist.

Natürlich ist es sehr schwierig, das Opfersein abzulegen, wenn man z.B. körperlich oder seelisch verletzt worden ist. Das Problem ist auch oft,

  • dass der eigentliche Grundschmerz vielen gar nicht konkret bewußt ist, z.B. weil er tief im Traumagedächtnis vergraben ist oder nie reflektiert wurde,
  • daher nur viel mehr die schmerzhaften Folgen betrachtet werden, die aus dem Grundschmerz in Form von Kompensationshandlungen oder gar Lebensentschei-dungen entstanden sind. Diese können sich im Laufe der Zeit zu sogar weitaus größerem Schmerz aufaddiert haben.

Wem es gelingt, aus diesem Kreislauf auszubrechen (z.B. Traumatherapie), kann sich bewußt dafür entscheiden, sich zukünftig nicht mehr als Opfer zu verstehen. Andern¬falls kann ein Psychodrama in Gang kommen:

  • „Es hat noch keinen Täter gegeben, der sich nicht zunächst selbst als Opfer sah. Der Glaube, zum Opfer geworden zu sein, ist die Vorstufe zur Täterschaft. Erst wenn man sich als Opfer versteht, werden bestimmte Täter-Dynamiken in Gang gesetzt.“
  • „Wie perfektioniere ich mein Opfersein? Ich frage nicht, was ich für mich selbst tun kann, sondern was am anderen falsch ist.“
  • (beide Zitate aus: Kelly Bryson; „Sei nicht nett, sei echt“)

b) Sich den Urteilen anderer unterwerfen

Verantwortung für sich selbst anzuerkennen und zu übernehmen ist ein ständiger Reife¬prozess, der bis ins Erwachsenenalter nicht endet. Kindern wird anfangs alles abgenommen – mehr oder minder erfolgreich und schmerzhaft erstreckt sich der Loslösevorgang über die Schulkindzeit und Pubertät bis zum „erwachsen sein“.

  • Dennoch „hören“ innerlich viele Menschen ständig weiter die Befindungen und Urteile ihrer Eltern – schaffen es einfach nicht, sich zu lösen und aufzumachen auf ihren eigenen selbstbestimmten Weg.
  • Sich in Abhängigkeit begeben von Urteilen anderer, die man als „übergeordnet“ ansieht, ist die Fortsetzung der erlernten kindlichen Abgabe der Verantwortung für sich selbst an andere. Dies findet im Arbeitsleben statt, in der Partnerschaft und überall in der Gesellschaft.
    Es ist offenbar leichter, die Probleme anderer zu sehen, als die eigenen. Gerade in Partnerschaften wird oft sehr darum gestritten, dass der jeweils andere endlich die eigene Verantwortung für seinen Anteil an den gemeinsamen Problemen einsehen und übernehmen möge.
  • Hierbei übersieht der Fordernde, dass sein Urteil über mangelnde Verantwort-lich¬keit beim anderen nichts anderes ist, als das was er gerade kritisiert – indem er seine eigene Verantwortung abschiebt auf den anderen.

c) Sich vom Frust anderer runterziehen lassen

Der Einfluss deprimierter Menschen, die andere mit hernterziehen und sie in ihren Gefühlen bestärken, entscheidungsunfähig und machtlos zu sein, ist in unserer Gesellschaft so groß, wie nie zuvor.

  • Medien und Presse haben seit Jahren ein negatives Weltbild entstehen lassen, das auf einer polarisierten Gesellschaft basiert, bei dem das Individuum machtlos und der Verantwortlichkeit für sich selbst beraubt ist.
  • Internetforen und soziale Netzwerke haben virtuelle Realitäten entstehen las-sen, in denen sich bedeutsame Mengen an frustrierter Menschen versammeln, die dort ihre negative Weltsicht als Ersatzkultur leben.
  • Familie, Freunde und Bekanntenkreis sowie das Miteinander in Vereinen, Gemeinden und politischen Gruppierungen ist zunehmend geprägt von Lethargie und Ohnmachtsgefühlen mit Wirkung auf das Gesamtgefüge.

Das Wirkprinzip all dieser Strukturen ist die „tröstliche Sympathie“ derjenigen, die man als Leidensgenossen wahrnimmt. Eine solche „Desaster Community“ bietet nur solange ein sicheres und vertrautes Ufer, wie man in deren beklagtem, negativen Weltbild verharrt. Sich daraus befreien bedeutet, …

  • das Vorhandensein von Wahlmöglichkeiten anzuerkennen bei all unseren Handlungen und die „Traumtötersprache“ ablegen, die lähmt und frustriert.
  • die Verantwortung für die eigenen Entscheidungen nicht aus der Hand zu geben und damit die Macht über die eigenen Reaktionen zu übernehmen.

d) Man wird nicht gedemütigt – man kann sich nur selbst demütigen

Vorwürfe, Kritik, Beleidigungen und Urteile schmerzen auch deswegen, weil sie als demütigend empfunden werden. Auch abfällige Bemerkungen, Gesten, Blicke oder Stimmlagen können dies auslösen. Und wenn Menschen denken, dass sie vom anderen gerade „ignoriert“ werden, kann sogar das „nichts tun“ eines anderen als demütigend gewertet werden.

Hieraus nährt sich auch der Gedanke „Was denken die anderen von mir?“, wenn es darum geht, wie man wahrgenommen werden will. Oder das Verletztsein, wenn man aus den Reaktionen anderer interpretiert, dass man nicht „so wahrgenommen“ wurde, wie man sich das gewünscht hat.

Beides – also die tatsächliche Reaktion anderer, als auch die eigene Interpretation darüber – hat dasselbe Schema, denn es handelt sich um nichts anderes als ...

  • den Ausdruck unerfüllter Bedürfnisse und
  • die innerlich ablaufenden Interpretationen und Bewertungen beider – also sowohl bei sich selbst, als auch beim anderen.

Das hat Chance! Wenn es also gelingt, die Aufmerksamkeit weniger auf den ersten oberflächlichen Schmerz zu richten, der sich automatisch aktiviert – sondern auf die Gefühle und Bedürfnisse hinter einer Äußerung, desto mehr erschließt sich aus der vermeintlichen Demütigung eine einfache Wahrheit:

  • „Hinter all diesen Botschaften, bei denen wir uns eingeschüchterte Gefühle erlaubt haben, stehen ganz einfach Menschen, die an uns appellieren, auf ihre Bedürfnisse einzugehen." (aus: Marshall B. Rosenberg; "Gewaltfreie Kommunikation)
  • ... die nur leider momentan keine passenderen Strategien zur Verfügung haben, uns dies mitzuteilen, als über eine Wortwahl, die uns verletzt.

Mit diesem Bewusstsein die Äußerungen anderer aufnehmen, vermag zu befreien! Dann kann man sich durch das, was andere sagen oder tun, nie gedemütigt fühlen. Man demütigt sich nur selbst, wenn man sich selbst in abfälligen Vorstellungen über andere verfängt – oder in Gedanken, dass mit einem selbst etwas nicht stimmt.

  • Eine schwierige Äußerung eines anderen kann auch ein Geschenk sein – nämlich die Gelegenheit, das Leben eines anderen zu bereichern.
  • Der Schmerz und die Trauer über die Art, wie der andere sein Bedürfnis zum Ausdruck gebracht hat, kann also übergehen in ein Bedauern über die Fehlbarkeit seiner kommunikativen Fähigkeiten. Damit lässt sich umgehen – im Bewusstsein, dass man selbst kommunikativ auch nicht immer die geschickteste Wortwahl trifft.

2. Dem anderen die Schuld geben

Meistens passiert es automatisch, dass jemand auf einen Vorwurf mit einer Recht-fertigung oder einem Gegenangriff reagiert, den Kritiker beschuldigt oder protestiert. Entweder weil man meint, gute Gründe für das kritisierte Verhalten zu haben, oder die Schuld beim anderen sieht und daher den Vorwurf zurück gibt. Dies führt zumeist zu einem Schlagabtausch, bei dem die Schuldfrage hin und her geschoben wird.

Der Auslöser für eine solche Reaktion ist Ärger – zunächst über den anderen, der den Vorwurf formuliert hat – alsbald aber auch über sich selbst, weil man sich auf dieses Geplänkel eingelassen hat. Um sich vor weiteren Selbstverurteilungen zu schützen, wird die beschuldigende Position dann um so vehementer verteidigt.

a) Der Hang zum Verurteilen

In einer Gesellschaft zu leben, in der viele glauben, man könne alles im Sinne von „richtig oder falsch“ oder „gut und böse“ beurteilen und das „entweder-oder“ mehr bekannt ist, als ein „miteinander-auch“ – ist es praktisch unmöglich, eine andere Auffassung zu entwickeln, als dass die Definition von Gerechtigkeit auf der Regel basiert, dass gutes Verhalten belohnt und schlechtes bestraft werden muss!

Durch gesellschaftlich Konventionen erlernt hat das Verurteilen solche Priorität, dass man dafür eine viel menschlichere Reaktion hintenan stellt – das Mitgefühl!

Daher empfindet derjenige, der direkt mit ansehen muss, wie einem anderen Leid zugefügt wird, meistens zuerst Wut und dann das Bedürfnis nach Bestrafung.

Dem eigentlichen, unverstellten menschlichen Impuls folgend könnte man jedoch stattdessen auch Mitgefühl entwickeln, …

  • zunächst für das Opfer, dass es dieses Leid erfahren hat,
  • dann für sich selbst, dass man dies mit ansehen musste
  • und zuletzt für den Täter, weil dieser keine Strategien gefunden hat, seine eigenen Bedürfnisse gewaltfreier zu erfüllen.

b) Wenn man seine Strategien an konkrete Personen bindet

Wenn man sich darauf versteift hat, seinen eigenen Schmerz bei einem bestimmten Menschen loszuwerden, begibt man sich in eine Erwartungshaltung, die neue Verletzungen hervorzurufen vermag:

  • Zunächst löst dies Angst aus, der andere könnte vielleicht den Schmerz nicht anhören, verstehen oder ernstnehmen. Angst schwingt unterschwellig mit in der Wortwahl und dem Tonfall, mit dem man sich an den anderen wendet.
  • Zweitens ist zumeist auch eine Beschuldigung damit verbunden, weil man ja der Ansicht ist, dass die andere Person Schuld den zugrundeliegenden Schmerz mit verursacht habe und man deshalb ein Recht darauf habe, das mal „loszuwerden“.

Mitschwingende Angst, der andere möge einen auch ja anhören, empfinden viele als Zwang, Forderungen oder Angriff und „machen zu“. Ebenso, wenn Beschuldigungen rausgehört werden, fangen Menschen an, sich zu schützen und wenden sich ab vom Anliegen ihres Gegenübers.

Damit hat man selbst dafür gesorgt, dass die Angst sich selber realisiert hat und die Beschuldigungen einen zusätzlichen Antrieb bekommen haben. Zu dem bis dato bestehenden Grundschmerz ist somit noch eine weitere Verletzung hinzukommen, nämlich die gerade selbst provozierte „Abfuhr“.

Und wenn es nicht zu dieser „Abfuhr“ kommt? Es gibt Menschen, die geschult sind im aktiven Zuhören und es vermögen, zwischen all den unterschwellig mitschwingenden Ängsten und Beschuldigungen die verborgene Bitte nach Empathie und Mitgefühl herauszulesen. Dies ist ein Glücksmoment – aber eher selten der Fall.

Weitaus häufiger ist es so, dass wenn der andere auf die unterschwellige Behauptung hereinfällt, angeblich die einzige Person zu sein, die einen von dem Schmerz zu erlösen vermag, …

  1. wird er zwar zuhören, aber unter dem Druck einer moralisch empfundenen Verpflichtung. Das zugrundeliegende Bedürfnis wird damit zunehmend als Last empfunden.
  2. Sich solcherart seiner Freiheit beraubt zu sehen, eigentlich selber darüber zu entscheiden, ob man zuhören möchte oder nicht, lässt Ärger entstehen, für den man irgendwann bitter bezahlen wird.
  3. Aus dem aktiven Zuhören wird alsbald ein höfliches „so tun als ob“. Eine echte Verbindung, die zur Befreiung von dem Schmerz notwendig wäre, kann über solche Voraussetzungen nur schwer entstehen.

Fazit: Je mehr einem selbst klar ist, dass man zwar ein starkes Bedürfnis nach Empathie und Zuwendung hat – nicht aber nach Erfüllung ausschließlich durch diese eine Person – desto weniger verzweifelt wird man sich an diese Person wenden. Und ausgerechnet damit wird die Wahrscheinlichkeit um so größer, dass diese andere Person einem dann tatsächlich zuhört und das auch mit mehr Präsenz tut.

3. Die eigenen Gefühle und Bedürfnisse wahrnehmen: „Was fühle ich?“

Etwas Negatives zu hören, tut weh. Doch statt nur auf den oberflächlichen ersten Schmerz zu hören, ermöglicht die weitergehende Beschäftigung mit den eigenen Gefühlen, zu ergründen, auf welche unerfüllte eigene Bedürfnisse das aktuelle Verletztsein hinweist. Und manchmal auch, welche darüber hinausgehenden Bedürfnisse dahinter stehen und die aktuellen Gefühle mitbeeinflusst haben.

Zudem bietet das Vergegenwärtigen der aktuellen Bedürfnisse auch die Gelegenheit, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren – statt den sich sonst zumeist beginnenden Schlagabtausch immer weiter in die Vergangenheit zurück zu entwickeln.

a) Für seine Gefühle ist man allein selbst verantwortlich

Es ist eines der am meisten verbreiteten Irrtümer, zu glauben, jemand anderes könne verantwortlich sein dafür, wie man sich fühlt. Oder dass man selbst dafür verantwort-lich sein könne, wie der andere sich fühlt.
Was jemand sagt oder tut, kann immer nur Auslöser sein für die Gefühle eines anderen – jedoch nie die Ursache.

Ein beobachtetes Verhalten oder die gehörten Aussagen eines anderen sind zunächst nichts anderes, als ein bloßer Wahrnehmungsreiz. Erst durch die eigene Bedeutungs¬gebung und Gewichtung entsteht daraus ein Eigenbezug, er eigene Gefühle aktiviert.

  • Ohne die eigene Bedeutungsgebung und Gewichtung wäre das Handeln eines Anderen nichts weiter als eine bloße Beobachtung.
  • Die eigenen Gefühle dazu entstehen aus der eigenen Entscheidung, wie man das aufnimmt, was der andere tut oder sagt. Die Verantwortung für seine eigenen Entscheidungen trägt man ganz allein selbst.
  • Der Handelnde hat nur die Verantwortung für sein Tun und seine Absicht. Die Absicht dahinter zu „interpretieren“ obliegt nicht demjenigen, die das Handeln lediglich beobachtet.
  • Die Interpretation des Beobachtenden ist aber beeinflusst durch seine aktuell unerfüllten Bedürfnisse und Erwartungen. Die Verantwortung hierfür hat aber nicht derjenige, dessen Handeln man beobachtet, sondern derjenige, der die unerfüllten Bedürfnisse und Verantwortungen hat.
  • Im Alltag lässt sich dies gut beobachten, z.B. in der Partnerschaft: Wenn einer der Partner glaubt, der andere sei schuld daran, dass man sich gerade mies fühlt oder herabgesetzt, dann kursieren im Kopf meistens solche Beschuldigungsformeln, dass man sich ja nicht so fühlen würde, wenn der andere nicht dies oder jenes gesagt oder getan hätte.

Wie sehr dieses Fühlen eben nicht vom Handeln des anderen abhängig ist, erkennt man gut daran, dass andere in derselben Situation durchaus zu anderen Gefühlen kommen – oder auch man selbst, wenn man „besser drauf“ ist oder ganz andere Dinge einem momentan wichtiger erscheinen.

Gerade die Bedeutungsgebung und persönliche Gewichtung spielt dabei eine zentrale Rolle. Und die ist abhängig von vergleichbaren Geschehnissen aus der Vergangen¬heit, was in Abstufungen des Schweregrades auch bekannt ist unter den Begriffen Konditionierung => Muster => Traumatisierung. Wer sich bereits an ähnlichen (oder vermeintlich ähnlichen) Situationen „die Finger verbrannt“ hat, reagiert auf das Tun oder Aussagen eines anderen mit dem Schmerz aus seiner Vergangenheit. Dafür kann jedoch der andere nichts, er ist nur der Auslöser – nicht die Ursache.

b) Für die Erfüllung seiner Bedürfnisse ist man selbst verantwortlich

Es gehört auch zur eigenen Verantwortung, für seine Bedürfnisse einzutreten und zu sorgen. Wer nicht klar ausspricht, was er braucht, verlagert die Verantwortung für die Erfüllung seiner Bedürfnisse auf andere.

4. Die Gefühle und Bedürfnisse der anderen wahrnehmen: „Was braucht der andere?“

Die vierte Möglichkeit, eine negative Aussage aufzunehmen, ist Einfühlung für die Gefühle und Bedürfnisse des anderen. Diese können sich durchaus unterscheiden von dem, was der andere direkt auszudrücken vermocht hat.
Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass man sich zunächst der eigenen Gefühle und Bedürfnisse bewusst geworden ist, bevor man sich empathisch jemandem zuwenden kann, der zuvor Vorwürfe oder Kritik geäußert hat.

a) Für die Gefühle anderer ist man nicht verantwortlich

Viele glauben, sie müssten sich ständig darum kümmern, dass alle glücklich sind. Und wenn nahestehende Menschen eben keinen glücklichen Eindruck machen, fühlt man sich dafür verantwortlich und gezwungen, etwas dagegen zu tun. Das kann leicht dazu führen, dass ausgerechnet die Menschen, die einem am nächsten stehen, als Last empfunden werden.

  • Die Verantwortung für die Gefühle des anderen zu übernehmen, kann sich in engen Beziehungen sehr zerstörerisch auswirken.
  • Es macht einen Unterschied, ob man auf Bedürfnisse anderer reagiert, weil man sich dazu gerufen / verpflichtet fühlt, oder ob man das aus freiem Herzen tut.

Sobald jemand glaubt, dass er die Gefühle anderer beeinflussen oder gar verletzen könne, gerät er in einen Kreislauf des Ringens um Kontrolle. In dem Grad, …

  • wie man glaubt, man für die Gefühle anderer verantwortlich zu sein, entsteht Angst davor, sich schuldig zu fühlen, andere verletzt zu haben.
  • wie man sein Verhalten von der Angst vor Schuldgefühlen abhängig mache, entsteht Groll darüber, nicht mehr frei zu sein in seinen Entscheidungen.
  • wie man mit sich selbst nicht zufrieden ist, entstehen innere Blockaden, auf die Gefühle des anderen empathisch eingehen zu können.
  • Die Angst davor, vom anderen oder sich selbst für den unglücklichen Eindruck des anderen verantwortlich gemacht zu werden, lässt es als beängstigend erscheinen, sich auf die Bedürfnisse anderer oder die eigenen überhaupt erst einzulassen. All das sind Gründe dafür, warum sich sogar einander nahestehende Menschen manchmal gefühlsmäßig distanzieren – um sich vor den eigenen Schuldgefühlen zu schützen.

Eine Variante davon ist – wenn Menschen sich nicht trauen, gegenüber anderen für ihre Bedürfnisse einzutreten. Viele glauben, dass der ehrliche Ausdruck der eigenen Position dafür verantwortlich sei, dass es anderen nicht gut gehe. Dies ist eine Überzeugung, die auf dem Irrglauben basiert, dass Ehrlichkeit verletzen könne.

Vielleicht jahrelang seine Bedürfnisse nicht ausgesprochen – sondern aus Angst vor den Gefühlen des anderen immer nur zurückgestellt zu haben, müssen viele bitter bezahlen. Die Verletzung ist umso größer, wenn daran die Beziehung zerbricht:

  • „Wenn ich sehe, dass mein Handeln dazu führt, dass mein Partner nicht glücklich ist, dann ersticke ich in Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen. Meine eigenen Be¬dürfnisse bleiben dabei auf der Strecke! Ich kann nicht mehr – ich muss hier raus aus der Beziehung.“
  • Oder die Partner werfen sich die Zerstörung der Beziehung vor: „Mein Partner ist so abhängig (von mir), da habe ich keine Luft mehr zum Atmen – das macht unsere Beziehung kaputt.“
  • Oder man reagiert rebellisch: „Das ist Dein Problem! Ich bin nicht dafür verantwortlich, dass Du das so siehst und fühlst.“

„Wir sind jetzt soweit, dass wir uns nicht mehr FÜR jemanden verantwortlich machen. Wir müssen aber noch lernen, wie man sich anderen GEGENÜBER verantwortlich verhält, ohne sich emotional zu versklaven. Das schafft Raum für echtes Mitgefühl, das frei ist von Schuldgefühlen und Gewissensbissen.(aus: Marshall B. Rosenberg; „Gewaltfreie Kommunikation“)

b) Verantwortung übernehmen für seine Absichten und Handlungen

Wenn Menschen realisiert haben, dass sie nicht verantwortlich sind für die Gefühle eines anderen, bedeutet dies jedoch keinen Freibrief, ohne Rücksicht zu handeln und sich auszudrücken. Zwar kann das eigene Handeln niemals Ursache sein für die Gefühle anderer, aber durchaus der Auslöser.

Verantwortlich ist und bleibt man für die Entscheidung zu all seinen Handlungen und für die Absichten dahinter:

  • Es macht einen Unterschied, ob man etwas Schmerzhaftes tut in der Absicht, den anderen zu verletzen – oder ob es aus Versehen war, oder vielleicht weil man den anderen dadurch vor größerem Unheil schützen wollte.
  • Es macht ebenso einen Unterschied, ob man etwas Schmerzhaftes sagt, weil man den anderen treffen will – oder weil durch den eigenen Schmerz oder aus Gründen der eigenen Fehlbarkeit in der aktuellen Situation leider keine andere Strategien zur Verfügung standen.

Weitere Info: www.poetter-kommunikation.de (Seminare, Coaching) / www.praxis-poetter.de (Psychotherapie)


Letzte Änderung: 17.10.2018

Pötter Heilpraktiker für Psychotherapie Recklinghausen
Autor/in und inhaltlich verantwortlich
Heilpraktiker für Psychotherapie Godehard Pötter
45663 Recklinghausen

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