Warum ist das Fernsehen ein so beliebtes Medium?

Aus der Kategorie ein Expertenbeitrag Psychologie, Verhalten, Gespräch

Herr Professor Höfisch, warum sehen wir so gern fern? Das Fernsehen ist ein sehr menschenfreundliches Medium. Und es ist ein analphabetisches Medium, das heißt, ich muss nicht lesen können, um ein kompetenter Fernsehkonsum zu sein. Wir waren über Jahrhunderte hinweg auf die Kategorie Sinn fixiert. Mit dieser Kategorie sind Sprache, Schrift und Buch verknüpft. Inzwischen sind wir jedoch eine sinnesfreudige Kultur geworden. Insofern ist das Fernsehen auch ein gemeinschaftsbildendes Medium: Die Attraktivität von Massenprogrammen wie „Big Brother“ oder den Seifenopern besteht darin, dass wir wissen, andere Menschen sehen das auch.

Wir bewegen uns also vom Sinn zu Sinnlichkeit?

Ja. Und wenn man Weltbilder und alltägliche Vollzüge lebt, die jenseits der Kategorie Sinn ablaufen, dann gibt es kein besseres Medium als das Fernsehen. Zudem ist es sehr demokratisch. Beispielsweise lassen sich heute Kriege viel seltener führen als früher. Unter Fernsehbedingungen wäre kein Nazi-Terrorsystem mit seiner Propaganda möglich gewesen.

Ist das nicht ein allzu optimistischer Befund? Lässt das Fernsehen nicht die Fantasie und die Sinnlichkeit der Zuschauer eher verkümmeln?

Auch das ist richtig. Das Fernsehen lässt einen faul werden. Man liegt auf dem Sofa und drückt ein paar Tasten. Allein schon das Umblättern einer Buchseite ist im Vergleich dazu eine riesige Anstrengung. Ich muss mir auch nicht wie bei der Lektüre eines Romans vorstellen, wie eine Landschaft oder ein Hotelzimmer aussieht. Es ist wie mit dem Alkohol: Viel saufen ist ein Problem. Ein Viertel Rotwein trinken am Tag ist aber besser als gar nichts zu trinken. Deshalb plädiere ich für ein kulturell reguliertes, ästhetisch auswählendes Fernsehen.

Vor dem Fernsehgeräte sitzen allerdings nicht lauter Bildungsbürger wie Sie, sondern mehrheitlich schlichtere Gemüter, die sich Trash-Programme angucken.

Ja, natürlich. Da muss ich mir sozusagen selber ins Wort fallen. Es ist eben ein großer Unterschied, ob ich mir die anspruchsvolle "Heimat“-Serie von Edgar Reite anschaue oder irgendeine Brüll- oder Stöhnsendung oder ein Gewinnspiel. Aber nicht das Medium Fernsehen an sich ist zweifelhaft, sondern bestimmte Sendungen. Das große Problem unserer gegenwärtigen Kultur ist, dass wir eine Massenaufmerksamkeit für Themen entwickeln, die erkennbar unsinnig sind. Nehmen Sie den Fußball: Da passiert nichts anderes, als dass ab und zu ein Ball im Tor landet. Es gibt wirklich Wichtigeres. Aber die Einschaltquoten sind enorm. Da kippt der Kult der Sinne um in den großen Kult der Sinnlosigkeit.

Ist ein solcher Sinnlosigkeitskult nicht eine Gefahr für ein humanes Gemeinwesen?

Man könnte es positiv sehen und sagen: Diese Entwicklung ist eigentlich ganz gut. Diese jahrhundertelange Gott- und Sinnsuche hat nur zu Kriegen und geschichtlichen Katastrophen geführt. Allerdings ist die Frage, wann wir die wirklich wichtigen Fragestellungen nicht mehr angemessen thematisieren.

Wo sehen Sie diese Grenze?

Sie wird schon überschritten. So sehr, dass es bereits eine entgegengesetzte Bewegung gibt. Immer mehr Menschen sagen schon wieder: Zurück zu den großen Projekten der Sinnsuche, zurück zu den menschheitsbeglückenden Projekten!

Dann empfehlen Sie also keine Fernsehenthaltsamkeit, sondern einen intelligenteren Fernsehkonsum?

Genau. Denn eine vorhandene Medientechnik lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Fernsehen und Internet sind einfach da, deshalb müssen wir eine Kultur des Umgangs lernen.

Wie können wir diesen Umgang lernen?

Ungefähr so, wie wir auch Lesen und Schreiben lernen. Wir gehen davon aus, weil das Fernsehens ein analphabetisches Medium ist, müssen wir das nicht erlernen. Tatsächlich aber brauchen wir einen Medienunterricht in den Bildungsinstitutionen, der uns vermittelt, wie wir uns einen intelligenten Cocktail aus den verschiedenen Programmen mixen.

[Quelle: Technology Review, Ausgabe 12 Dezember 2005, S. 114]


Letzte Änderung: 03.10.2018

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