Europäischer Schamanismus? Geht das überhaupt? Aber ja!
Im Allgemeinen wird der Schamanismus als die älteste, genauer nachweisliche Form religiösen Denkens beim Menschen bezeichnet (Eliade/Gorbatcheva) denn dieser ist seit der frankokantabrischen Höhlenkunst des Aurignacien, im Jungpaläolithikum relativ sicher nachweisbar, also vor etwa 30.000 Jahren (Eliade: Geschichte der religiösen Ideen).
Obwohl wir in (Mittel-)Europa seit mehreren hundert Jahren keine ungestörte oder ungebrochene schamanische Tradition mehr haben, blicken wir doch auf einen reichen Schatz an schamanischen „Indizien“ und Überresten, auch in unserer Kultur und unserem regionalen Raum, zurück. Zehntausende von Jahren mit schamanischem Weltbild haben auch in Europa deutliche Spuren hinterlassen.
Sei es der Weltenbaum in der germanischen Mythologie, die Tier-Geister und Tier-Verbündeten der Hexen und Zauberer im Märchen, eine reiche Mythologie und Sagenschatz über Orts-, Natur- und Schutzgeister, das Besprechen, Anbeten oder Besingen von Krankheiten, schamanische Reiseberichte wie im Märchen von Gold- und Pech-Marie, Trance- und Ekstase-Techniken, die sich sogar in Teilen der kirchlichen Liturgien und Bräuche erhalten haben etc.
Dieser Schatz lässt sich heben und neu in unseren Alltag einfügen.
Wir können nicht die Bräuche und den ursprünglichen Schamanismus Europas in Gänze und zweifelsfrei rekonstruieren und wiederbeleben, dafür reichen die Erkenntnisse aus Archäologie und Religionswissenschaft nicht aus. Auch ist es eine Frage, wie sinnvoll das überhaupt in der heutigen Zeit wäre. Unsere Leben, Werte, Sitten und auch unsere sozialen Netze sind doch sehr unterschiedlich von denen unserer Vorfahren.
Aber, wie beinahe immer gilt „Wir sind Zwerge auf den Schultern von Riesen“ (frei nach Bernhard von Chartres) und können uns die Erkenntnisse der heutigen Zeit zunutze machen.
Mithilfe lokaler Überlieferungen, Märchen, Sagen und Legenden, schamanischer Praxis und Vision, wissenschaftlichen Erkenntnissen und der Orientierung an den Bedürfnissen der neuen Zeit, lässt sich eine indigene, europäische und gleichsam moderne und zeitgemäße schamanische Spiritualität erarbeiten.
Schamanismus und schamanisches Weltbild sind etwas, das man erleben muss. Man kann natürlich viel darüber lesen und hören, aber die echte Erkenntnis, wie real und nutzbringend auch für uns heute noch die „Beseeltheit der Welt“ und die Kraft der Anderswelt sind, kommt nur mit der schamanischen Praxis.
Die schamanische Praxis wiederum sollte auch ganz praktisch nutzbringend sein, für den schamanischen Praktiker und auch für seinen „Stamm“. Daher braucht es dringend einen Schamanismus, der oder die an die moderne Zeit, ihre Regeln und Bedürfnisse als auch an die Menschen und Geister der Region, in der Mensch lebt, angepasst sind.
Mein Großvater lernte zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts noch Heilgesänge, Sprüche und Gebete zur Bekämpfung bestimmter Krankheiten. Ich habe diese gelehrt bekommen aber ihre wahre und vollständige Kraft und Bedeutung hat sich mir erst durch die schamanische Praxis eröffnet.
Durch Erforschung und Studium verschiedener indigener, schamanischer Bräuche dieser Welt lernte ich mit der Zeit, dass diese Technik, Krankheiten „fort zusprechen“, „fortzublasen“ oder „fortzusingen“, wie es mein Großvater gelehrt hat, an vielen Orten dieser Welt und in vielen schamanischen Kulturen bestens bekannt ist.
Das Märchen von Frau Holle z. B. habe ich in meiner Kindheit hundertfach erzählt bekommen.
Aber erst durch die schamanische Praxis und das Erleben einer Reise in die untere Welt, wurde mir klar, welch „expliziten“ Bericht einer schamanischen Reise uns mit diesem Märchen überliefert wurde. Ein echter schamanischer Reisebericht aus den Tiefen unserer Vergangenheit ist uns hier, in Gestalt eines Märchens, womöglich über Jahrtausende hinweg überliefert worden. (Mehr zum Alter von Märchen hier: http://www.welt.de/kultur/article151369664/Warum-die-Brueder-Grimm-doch-recht-hatten.html)
In den letzten Jahrzehnten haben viele, viele spirituelle Meister von allen Enden der Welt viel Mühe und Aufwand darauf verwandt, eine erlebbare und ursprünglichere Spiritualität zurück nach Europa und in die sog. „westlichen Industrienationen“ zu bringen. Es wird uns aber nur bedingt auf Dauer helfen, wenn wir diese Spiritualität vom anderen Ende der Welt einfach kopieren.
Unsere Aufgabe heute ist es meiner Ansicht nach, den Anstoß, den wir aus allen Himmelsrichtungen von den großen Schamanen unserer Zeit bekamen, nun zu transformieren und einen indigenen, europäischen und zeitgemäßen Schamanismus zu entwickeln – und vor allem auch zu leben – der uns dabei hilft, die Welt aufs neue und zum Nutzen all ihrer Bewohner zu verzaubern.